Menschen auf der Berliner Mauer - Mauerfall 1989

Ein Blick in die Vergangenheit

Auch nach 24 Jahren ist es von großer Bedeutung, sich die Hintergründe und den Ablauf der „Wende“ vor Augen zu führen. Nur mit dem Blick in die Vergangenheit können wir erkennen, was unsere Freiheit bedeutet und welchen hohen Stellenwert die Freiheit der Meinung und des Einzelnen hat. Diese Freiheit sollte uns zu Wertschätzung gegenüber den vorangegangenen Generationen und zu Anerkennung der Leistungen unserer Mütter, Väter und Großeltern bringen. Aber gleichermaßen sollte uns die Vergangenheit Warnung genug sein, gewesenes Unrecht nicht zu wiederholen.

Mein Vater hielt seine Eindrücke in seinem Buch fest:

Die Ereignisse im Herbst des Jahres 1989 erfüllten mich mit großer Freude und Genugtuung. Die Macht der SED brach Schritt für Schritt auseinander, der Weg für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten öffnete sich. Ich hoffte, mich nun bald sorglos bewegen zu können und nicht mehr fürchten zu müssen, während einer innenpolitischen Krise verhaftet zu werden, denn mir war bekannt, dass ich von der Stasi in ihrer Vorbeugekartei für Festnahmen geführt wurde. Bis dahin waren Isolierungslager für Oppositionelle, politisch Verurteilte und andere politisch Unzuverlässige. Es zeigte sich, dass die vorher so allmächtige Partei- und Staatsführung der DDR nicht mehr in der Lage war, diese Auflösungserscheinungen zu erkennen und zu verhindern. Trotz Massenflucht in die Botschaften feierte Honecker den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 mit Fackelzug, Festveranstaltung und Militärparade, als ob ein Sieg errungen worden wäre. Aber es war bekannt, dass am 10. September alle Fluchtwilligen von Ungarn ausreisen durften und ab 30. September auch von Polen und der Tschechoslowakei.

Es blieb auch nicht geheim, dass die Züge aus Prag bei der Fahrt durch Dresden gestürmt wurden, weil Tausende diese Gelegenheit zur Ausreise nutzen wollten; nur ein massiver Einsatz der Polizei verhinderte das. In Leipzig strömten jeden Montag immer mehr Menschen zu den Friedensgebeten in die Nikolaikirche. Ich war zum Einkauf in der Messestadt und kann mich erinnern, dass wir am 2. Oktober 1989 beim Rückweg von der Mädlerpassage ins Hotel nicht durch die Innenstadt kamen; sie war weiträumig abgesperrt. Die Polizei ging gegen tausende Demonstranten vor, die Reformen und Reisefreiheit von der Regierung forderten.

Der Kampfgruppenkommandeur Lutz erklärte am 6. Oktober in der „Leipziger Volkszeitung“ im Namen der Hundertschaft „Hans Geiffert“, dass die Bürger ihre Gebete in der Nikolaikirche verrichten könnten, dass aber gegen alle „gewissenlosen Elemente, die kirchliche Gebäude missbrauchen, die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen“ sind – „… wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Das habe ich kopfschüttelnd gelesen; es blieb eine leere Drohung.

Die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf rief zu Gewaltlosigkeit und Geduld auf, wollte vermitteln, forderte den Dialog sowie einen Runden Tisch. Trotzdem ging die Polizei am 7. und 8. Oktober in Berlin brutal gegen friedliche Demonstranten vor. Von den Medien der Bundesrepublik ist darüber ausführlich berichtet worden – in Presse und Fernsehen der DDR war nur von „einzelnen Störaktionen“ die Rede. Doch als am 9. Oktober in Leipzig nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 70.000 Menschen auf dem Innenstadtring demonstrierten, wurden sie nicht aufgehalten. Die bereitstehenden Einheiten der Armee und der Kampfgruppen zogen sich zurück. Die Gewaltlosigkeit siegte.

Honecker, der im Januar 1989 erklärte, die Berliner Mauer wird in 100 Jahren noch bestehen, zitierte den Ausspruch August Bebels, der als Sozialdemokrat im Kaiserreich sagte: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“ Mit den Worten Gorbatschows „Wer zu spät kommt, den Bestraft das leben“ wusste er aber nichts anzufangen. Die Genossen zwangen ihn am 18. Oktober 1989 zum Rücktritt.
Sein Nachfolger wurde Egon Krenz. Ich habe seine Antrittsrede im Fernsehen verfolgt, und mir liegt heute noch im Ohr, was er der Bevölkerung zumutete. Es sei eine Wende eingeleitet, behauptete er, doch der Sozialismus auf deutschem Boden stehe nicht zur Disposition. Jetzt wäre es nötig, „dass alle arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten“. Diesen Aufruf, mit dem die Vormachtstellung der SED gerettet werden sollte, fand ich empörend; doch es schien mir damals schon sicher, dass Krenz damit scheitern wird.

In den Erfurter Bezirkszeitungen konnte ich verfolgen, wer vom Amt zurücktrat oder entbunden wurde: Anfang November Harry Tisch, Vorsitzender der Einheitsgewerkschaft FDGB, die Vorsitzenden der Blockparteien CDU und NDPD, Gerald Götting und Heinrich Homann, die Volksbildungsministerin Margot Honecker, die SED-Bezirkssekretäre in Suhl und in Gera; die Mitglieder des SED-Politbüros Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann. Die DDR-Regierung unter dem Vorsitz von Willi Stoph trat zurück und auch das Politbüro der SED. Hans Modrow, Erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden wurde Parteichef der SED und Ministerpräsident; er galt als „Reformkommunist“. Das Politbüromitglied Günter Schabowski hatte kurz zuvor auf einer Pressekonferenz am 9. November erklärt, dass jetzt Privatreisen ohne Voraussetzungen genehmigt werden und – auf Nachfrage – dies trete sofort, unverzüglich in Kraft.

Eine Kettenreaktion war die Folge, die Bürger strömten massenweise zu den Kontrollstellen, die überraschten Grenzwachen öffneten schließlich gegen Mitternacht die Schlagbäume.

Die Mauer war gefallen! Ich hörte es morgens im Radio. Meine Frau Marie-Luise lag im Krankenhaus Bleicherode zu einer Kur; sie wollte noch am gleichen Tag eine Fahrt über die Grenze machen. Gegen Mittag kam auch unser Sohn aus Mühlhausen, wo er seinen Wehrdienst leistete, in Zivil auf dem Motorrad an. Wir fuhren los, holten Marie-Luise ab und reihten uns in eine lange Schlange von Fahrzeugen ein. Wir rollten durch Ortschaften, die ich von früher kannte und seit vielen Jahren nicht mehr aufsuchen durfte. Überall am Straßenrand standen Menschen, die winkten und uns Bananen, Apfelsinen und Schokolade ins Auto reichten. Dabei herrschte eine unglaublich freudige, aufgeregte Stimmung, man lachte und weinte. Wir fuhren bis nach Göttingen.

In der Stadt begegnete uns ein langer Demonstrationszug von Jugendlichen, die zum Teil vermummt waren, mit lauten Sprechchören: „Warum musste Conny sterben?“ Dieser laute Protest gegen eine Aktion der Polizei erstaunte und erschreckte uns. Wir kehrten um, von vielfältigen Eindrücken geradezu überwältigt. Das war der erste Blick in den Westen. Unzweifelhaft, die Grenze hatte sich geöffnet!
Am 1. Dezember wurde im Artikel 1 der Verfassung der Satz „unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch- leninistischen Partei“ gestrichen, der Führungsanspruch also beseitigt. Drei Tage später trat das Zentralkomitee der SED mit Egon Krenz als Generalsekretär zurück. Wiederum nach drei Tagen trat erstmals der „Runde Tisch“ zusammen, an dem sich die bisherigen Machthaber und die neuen politischen Kräfte gegenüber saßen.

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